Wilhelmine Miller
„Das
Geheimnis der Versöhnung ist die Erinnerung“
Persönliche Erfahrungen einer Zeitzeugin
Interview mit Wilhelmine Miller zu ihrem 90. Geburtstag
Wilhelmine Miller, geb. 18.4.1925 in Thannhausen, fühlte sich seit Mitte der 50er Jahre als pax christi-Mitglied, trat aber offiziell erst 1983 ein. Seit dieser Zeit hat Wilhelmine bei pax christi mitgearbeitet, viele Aktionen und Gebete vorbereitet, war Redaktionsmitglied beim Rundbrief und guter Geist bei den Begegnungen nach den Gottesdiensten in St. Bonifaz. Bis heute besucht sie viele unserer Veranstaltungen.
Wie wurdest Du auf pax christi aufmerksam?
Ich kam 1948, also mit 23 Jahren, von Thannhausen nach München und habe angefangen, im Bayerischen Gemeindetag zu arbeiten. Ich habe Anschluss gesucht und bin zunächst - eher zufällig - zur Katholischen Jugend und von dort dann zur Katholischen Jungen Mannschaft gekommen. Am Korbinianstag 1953 in Freising habe ich gehört, wie der Kapuzinerpater Manfred Hörhammer in seiner Festpredigt von pax christi sprach. Ich dachte mir gleich: Das könnte etwas Interessantes sein.
P. Manfred war zu dieser Zeit Geistlicher Beirat der Katholischen Jungen Mannschaft und von pax christi Deutschland. Auch andere führende Köpfe der Katholischen Jungen Mannschaft (von der sich 1955 die sog. „Gruppe München“ abspaltete), wie Willi Schanz und Emil Martin, haben sich bei pax christi engagiert. Ich habe zunächst nur den Rundbrief von pax christi bezogen. Erst 1983 bin ich Mitglied geworden, als ich festgestellt habe, dass man mit Bezug des Rundbriefs nicht automatisch Mitglied wird. Bei den Sitzungen der Katholischen Jungen Mannschaft wurden oft auch Themen von pax christi debattiert. Es gab viele Überschneidungen, inhaltlich wie personell.
1981 hat Willi Schanz beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg einen Stand der Deutschen Sektion von pax christi entdeckt und war überrascht von all den Aktivitäten. Zu dieser Zeit war in München praktisch nicht mehr los. Seit 1970 war Prof. Wilhelm M. Sing Vorsitzender der Bistumsstelle. Eine kleine Gruppe von Mitgliedern um Willi Schanz - ich war dabei - hat dann die Bistumsstelle München aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Wir haben alle 14 Tage eine Sitzung einberufen und uns politisch mit Protestbriefen und der Teilnahme an Demos engagiert. Das war zu jener Zeit, als es um die Wiederbewaffnung Deutschlands und den NATO-Doppelbeschluss ging. Am 22. November 1983 wurde dann erstmals seit 12 Jahren wieder eine Diözesanversammlung einberufen, an der mehr als 80 Mitglieder teilnahmen. Wolfgang Deixler, der auch zur „Gruppe München“ gehörte, wurde Sprecher der Bistumsstelle (bis 1997). Unter ihm wurde die Bistumsstelle neu aufgebaut und entfaltete viele Aktivitäten. Wolfgang Deixler hat z. B. die Delegiertenversammlung von pax christi Deutschland nach München geholt.
Die „Gruppe München“ hat damals pax christi im Haus der Theatergemeinde in der Landwehrstrasse eine Wohnung als Büro überlassen. Der Tod von Willi Schanz 2007 hat bei der „Gruppe München“ eine große Lücke hinterlassen, aber ungefähr zehn von uns treffen sich noch immer ab und an in der Pfarrei St. Ignatius.
P. Manfred Hörhammer war wirklich großartig. Er war ein großer „Wanderer“ für den Frieden. Um Versöhnung zu erreichen, führten ihn seine ersten Wege nach Frankreich, das ihn später mit dem Orden „Pour le mérite“ auszeichnete. Er erzählte einmal, dass er sich geschämt hat Deutscher zu sein, als er das erste Mal nach Oradour-sur-Glane kam und mit den Franzosen durch die Straßen ging. Da er ausgezeichnet Französisch sprach, war dies zunächst gar nicht aufgefallen.
Leider ist P. Manfred Hörhammer rasch in Vergessenheit geraten. Das ist der Lauf der Zeit. Das wurde mir auch 2014 bei den Gedenkveranstaltungen zu „100 Jahre Erster Weltkrieg“ bewusst. Ich habe noch viel durch meinen Vater gewusst. Aber es scheint, dass sich schon die nächste Generation nicht mehr für das Thema interessiert. Das bedauere ich sehr.
Welche Erinnerungen hast Du…
… an den Ersten Weltkrieg?
Uns wurde die Geschichte damals anders gelehrt als heute. Bei den Gedenkveranstaltungen und aus den Medien habe ich daher letztes Jahr historisch viel Neues erfahren. Beim ökumenischen Gedenkgottesdienst in St. Johann Baptist am 31. Juli 2014 - von dieser Kirche aus wurden vor 100 Jahren junge Menschen in den Krieg geschickt - hat der evangelische Landesbischof Bedford-Strohm gepredigt, dass die meisten dieser jungen Leute überzeugt waren, mit ihrem Kriegsdienst auch Gottes Willen zu erfüllen. Auf den Koppelschlössern ihrer Uniformen stand „Gott mit uns“. Das ist mir heute unverständlich.
Mein Vater, der von Beruf Drechslermeister war, diente im Ersten Weltkrieg als Leutnant, er ist in Ulm eingerückt und war im Stellungskrieg in den Vogesen. Eigentlich ein sinnloser Krieg. Die Menschen sind auf sehr grausame Weise umgekommen. Mein Vater - ein sehr pflichtbewusster Mann - war aber stolz auf den „ordnungsgemäßen Rückzug“ der Soldaten trotz des verlorenen Krieges. Die Anarchie, die am Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte, als die gefangenen Soldaten flüchteten, die desertierten Soldaten durch die Dörfer zogen und Schutz suchten usw., fand er grauenvoll.
… an den Zweiten Weltkrieg?
Viele sagen ja noch immer: Wir haben nichts gewusst. Das stimmt nicht. Viele haben weggeschaut, wollten nichts wissen. Mein Vater ist zur Partei gegangen, da er den damaligen Wirtschaftsaufschwung Hitler zugeschrieben hat. Meine Mutter, die 1939 nach schwerer Krankheit gestorben ist, war eine einfache Frau aus einer Bauersfamilie. Sie hat immer gesagt: Der Hitler will den Krieg, er vernichtet die Juden, er ist gegen die Kirche. Mein Vater hat dann gesagt: Du kommst nach Dachau, wenn Du nicht still bist!
Meine Mutter hat uns, ihre zwei Mädchen, nicht zum BDM gelassen, bis es Pflicht wurde. Als ich beim BDM war, habe immer das Gefühl gehabt: Da gehöre ich nicht dazu. Mein Bruder war bei der Hitlerjugend. In den Schulen gehörte Hitlers Aufstieg in den 1930er Jahren bis zum Kriegsbeginn zum Lehrplan für das Fach „Geschichte“.
In Thannhausen gab es ein großes Arbeitsdienstlager: den Arbeitsdienstlern stand es frei, in die Kirche zu gehen. Am Land haben auch die Fronleichnamsprozessionen während des ganzen Krieges weiter stattgefunden. Während die Prozession vorbeizog, standen viele Arbeitsdienstler rauchend am Marktplatz herum, das war natürlich eine Provokation.
Meine Schwester wurde auch zum Arbeitsdienst eingezogen. Sie war im Lager in Regen im Bayerischen Wald. Als der Krieg anfing, wurde sie als Flakhelferin im Wienerwald eingesetzt. Ich selbst musste 1940/41 ein Pflichtjahr absolvieren bei einer Lehrersfamilie mit fünf Kindern im Schulhaus eines Dorfes. Mir ging es dort ganz gut, aber ich durfte nicht in die Kirche gehen. Wahrscheinlich aus politischen Gründen. Einmal bin ich trotzdem alleine mit den Kindern zur Kirche am Berg oben spaziert, für die Kinder war das etwas ganz Neues. Zum Glück haben sie daheim nichts erzählt.
Mein Vater hat dann im Krieg noch einmal geheiratet, meine Stiefmutter hatte einen großen Einfluss auf meinen Vater, der sich sehr verändert hat. Als ich vom Pflichtjahr nach Hause kam, war dort alles anders. Früher hatten wir ein gutes Familienleben.
Bis zum Ende des Krieges war ich dann im Dienst im Lohnbüro der Fleischwerke Zimmermann in Thannhausen. Da gab es auch viele Zwangsarbeiter aus Holland, Polen und Frankreich, mit denen es ein ganz gutes Verhältnis gab.
Nach der Währungsreform wurde ich entlassen und wurde arbeitslos. Ich versuchte dann in München Arbeit zu bekommen, das war damals sehr schwierig. Für München brauchte man eine Arbeitserlaubnis und eine Zuzugsgenehmigung. Beides habe ich 1948 bekommen und habe dann angefangen, im Büro des Bayerischen Gemeindetags zu arbeiten und habe diesen mit aufgebaut. Fast 40 Jahre habe ich dort gearbeitet, es war eine interessante Tätigkeit.
Mein Vater hatte im Krieg zwar einen Stellungsbefehl, wurde aber nicht eingezogen, weil er Feuerwehrkommandant war. Zum Löschen ist er bis Augsburg, Nürnberg, München und Ulm gefahren: die Löschmannschaften wurden damals zusammengezogen, weil es zu wenige Männer gab.
Unser Haus war damals voller Flüchtlinge - Bombengeschädigte aus München, Heimtvertriebene – und Besatzung. Als ich einmal nach dem Nachtdienst in der Früh heimkam, war ein Aufruhr in der Familie: Mein Vater war abends in der Haustüre gestanden, als ein Soldat im Laufschritt in den Hof hineinkam und zu meinem Vater gesagt hat: „Lassen Sie mich rein, die sind hinter mir her!“ Mein Vater hat ihn dann einfach reingeschoben und ist stehengeblieben, als wenn nichts wäre. Kurz darauf kamen die SS-Leute, die den desertierten Soldaten gesucht haben. Mein Vater hat gesagt: „Ich habe nichts gesehen“. Der Mann ist dann bis zum nächsten Tag bei uns geblieben, um 5 Uhr morgens hat mein Vater ihn geweckt und ihm sein Leichtmotorrad gegeben. Der Mann war in der Landsberger Gegend daheim. Alle in der Familie haben sich aufgeregt, dass mein Vater das Motorrad hergegeben hat. Mein Vater hat dann gesagt: „Schluss jetzt, der Mann war in Todesgefahr!“ Nach Wochen, als die Amerikaner schon da waren, hat der Mann das Motorrad tatsächlich zurückgebracht und sich bedankt: „Sie haben mir das Leben gerettet“.
Mein Bruder, der von Beruf auch Drechslermeister wie mein Vater war, ist zum Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) gegangen. Mein Vater hatte gemeint, dass mein Bruder, wenn er an die Front kommt, bei den Kraftfahrern sicherer sei. Letztlich war mein Bruder aber doch ganz vorne dabei: er war beim Afrikacorps zur Betreuung der Feldlazarette eingeteilt, d. h. er musste vorfahren und die Verwundeten holen. In Tunesien ist er in französische Gefangenschaft geraten; sein Glück war, dass er von dort in ein Lager nach Amerika verschifft wurde. Dort wurde er gut behandelt.
Später hat er mir einmal erzählt: Als er dort von dem Attentat am 20. Juli 1944 auf Hitler gehört hat, haben die deutschen Gefangenen nicht verstehen können, wie deutsche Offiziere so etwas machen können. Die hatten damals noch immer nichts kapiert!
In der Bibliothek im amerikanischen Lager hat mein Bruder einmal ein Plakat gemalt mit dem Schiller-Zitat: „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest in deinem ganzen Herzen. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft“. Das hatte mein Vater uns noch ins Poesiealbum hineingeschrieben. Er wurde dann aufgefordert, es ins Englische zu übersetzen. Die Amerikaner sagten dann: „He is a very good boy“. Was bedeutet das „Vaterland“ den jungen Leuten heute noch?
Erst 1947 ist mein Bruder wieder heimgekommen. Damals hat er gemeint, dass es daheim alles gibt. Nach seiner Rückkehr hat er aber das Chaos hier gesehen und dass es nichts mehr zu kaufen gab. Er ist 2014 gestorben.
… an den sog. „Tag der Befreiung“ am 8. Mai 1945?
Thannhausen wurde widerstandslos den Amerikanern übergeben, die mit den Panzern langsam durch unsere Stadt rollten. Wir hatten noch nie Panzer gesehen. Vorne auf die Panzer haben die Amerikaner die Volkssturmmänner gesetzt, damit die Volkssturmleute nicht schießen. Wir haben nur durch die Vorhänge hinausgeschaut, weil wir nicht auf die Straße hinausgehen durften.
Man hat nur gesagt: Gott sei Dank ist es zu Ende, gleichzeitig wussten wir nicht, was uns erwartet. Später kamen dann die Franzosen mit ihren Hilfstruppen aus Marokko. Uns gegenüber haben sich alle Soldaten korrekt verhalten, aber ich habe auch von Vergewaltigungen draußen in den Dörfern durch die GIs gehört.
… an die Phase der Remilitarisierung Deutschlands ab 1949 und der atomaren Bewaffnung ab der 2. Hälfte der 1950er Jahre?
Aus Protest gegen die Wiederaufrüstung sind in Deutschland die Friedensbewegungen entstanden. Ebenso haben sie sich für das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingesetzt. Die Kriegsdienstverweigerer mussten damals noch vor den Richter und wurden sehr schlecht behandelt, da die Gerichte noch nicht entnazifiziert waren. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wurden jene, die aus Gewissensgründen verweigert haben, auch von der katholischen Kirche anerkannt. Die katholische Kirche hat im Zweiten Weltkrieg und auch in der Zeit bis zum Zweiten Vatikanum oft versagt.
Mit den Ostermärschen wurde gegen die nukleare Aufrüstung in Deutschland demonstriert. Am Anfang waren wir kein großes Häuflein. Aber dann sind immer mehr Menschen an immer mehr Orten auf die Straße gegangen, es waren Hunderttausende. Die vielen Demos, die ich mitgemacht habe, möchte ich nicht missen. Damit konnte ich meine Solidarität zeigen und erlebte viele schöne Begegnungen. Immer wieder hörte ich, wie bei solchen Anlässen jemand meinen Namen rief und ich traf Freunde, die aus allen Himmelrichtungen gekommen waren.
... an die Versöhnungsfahrten der Deutschen Sektion von pax christi in den 1980er/90er Jahren kurz vor bzw. nach dem Zusammenbruch des Ostblocks?
Zu Ostern 1987 war ich bei der Russlandreise (Moskau, Minsk, Vilnius, Kaunas) dabei. Es ging um Kontakte zur Russischen Orthodoxen Kirche und auch um Aussöhnung. Den orthodoxen Ostergottesdienst haben wir in Minsk erlebt, die ganze Nacht hindurch wurde die Messe gefeiert. In der Früh waren wir zum Fastenbrechen im Patriarchat eingeladen. Dort haben wir unsere Osterlieder gesungen und ich habe eine Kerze mit der Patrona Bavariae überreicht und erklärt, was es damit auf sich hat, die ich noch in der Tasche hatte. Das war eine große Freude.
Ein Mitreisender hat in Sagorsk beim Schriftstellerverband erzählt, dass er in russischer Gefangenschaft war und mit einem Gewehr bewaffnet aus dem Lager ausgebrochen ist. Dabei hat er einen Russen erschossen. Er stand da und hat gesagt: „Ich bitte um Verzeihung und Versöhnung“. Da war Schweigen.
Unser russischer Reiseleiter und Dolmetscher hat zwar gesagt: „Ich bin Atheist“, aber als wir uns am Ende der Reise am Flughafen verabschiedeten, rief er uns laut nach: „Vergesst uns nicht und betet für uns!“
Sehr gerne erinnere ich mich auch an die Reise nach Lourdes 1994 zum 50-Jahr-Jubiläum von Pax Christi International. Auf einmal hieß es bei dieser Generalversammlung: „Wie viele sind aus Deutschland da?“ Wir waren insgesamt 23. Wir wurden gebeten aufzustehen. Dann gab es viel Beifall. Aber mir kamen die Tränen. Da kommt einem zu Bewusstsein: Wir sind eigentlich die Verursacher des Leids. Aber trotzdem ist Versöhnung möglich. Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. Dass man nicht vergisst, gehört dazu.
Als wir 1988 in der Tschechoslowakei waren, wurde uns verboten, Kardinal František Tomášek zu besuchen. Unser geistlicher Beirat, Johannes Hain, und Pfarrer Norman Hepp (St. Stephan, Neuperlach), der uns begleitete, statteten dem Kardinal durch den Hintereingang des Erzbischöflichen Palais einen heimlichen Besuch ab. Kardinal Tomášek lud daraufhin unsere pax christi-Gruppe ein, in Leitmeritz an dem von ihm zelebrierten Gottesdienst für die neuen Priesteramtskandidaten teilzunehmen. Norman Hepp und Johannes Hain konzelebrierten und berichteten im Gottesdienst über die Aktivitäten von pax christi. Wir sangen unsere Friedenslieder. Liesel Rottmayr und ich trugen die pax christi-Fahne herein. Wir wollten damit zeigen, wer wir sind. Kardinal Tomášek hat uns nach dem Gottesdienst persönlich begrüßt.
Nach der Wende sind wir 1995 nach Ostdeutschland gefahren. Interessanterweise hat es in der DDR Kontakte von pax christi (Mitgliedern) zu Kirchengruppen gegeben; pax christi hat z. B. geholfen, Kerzen in die DDR zu schmuggeln. In Erfurt haben wir dann erfahren, wie mutig die Leute damals waren. Junge Leute sind vor das Gefängnis in der Bautzner Straße gezogen und haben „Sonne der Gerechtigkeit“ gesungen, das war ungeheuer gefährlich. Die Gefangenen sollten hören, dass sie nicht vergessen sind. Wenn diese Demonstranten Kinder hatten, haben sie die Schlüssel Nachbarn, die daheim geblieben sind, gegeben, falls sie nicht mehr zurückkommen - damit die Kinder nicht allein bleiben. So hat man sich immer wieder abgewechselt. Das hat mich damals tief beeindruckt.
Weitere pax christi-Reisen führten mich auch nach Polen und Rumänien sowie insgesamt vier Mal nach Israel/Palästina. Das erste Mal noch vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, die anderen Male reisten wir unter der Leitung von Reuven Moskovitz. Schon bei der ersten Reise mit Reuven Moskovitz besuchten wir das Dorf Neve Shalom, das von Bruno Hussar 1972 gegründet wurde. Auch Bruno Hussar ist viel zu schnell in Vergessenheit geraten. Im Februar 1982 bestiegen wir den Mosesberg in Israel. Fr mich war das eines der eindrucksvollsten Erlebnisse meiner Israel-Reisen. Das war damals die Anfangszeit, in der man überhaupt den Berg Sinai besteigen durfte. Wir sind vor Sonnenaufgang vom Katharinenkloster aufgebrochen, wo wir übernachtet haben, immer wieder wurden wir an der ägyptisch-israelischen Grenze kontrolliert. Nur ein kleiner Teil von uns ist bis nach ganz oben gestiegen, die anderen sind nur bis zur Elias-Kapelle gewandert. Oben war dann Stille, bis einer anfing, für den Frieden in der Welt zu beten. Das war sehr eindrucksvoll. Wir haben dann auch leise gesungen, denn keiner von uns hatte viel Stimme, so berührt waren wir.
Sehr gerne erinnere ich mich auch an die sog. „theologischen Sommerwerkstätten“ der Deutschen Sektion von pax christi, auf die mich Wolfgang Deixler auf Diese wurden vom damaligen geistlichen Beirat von pax christi, Heinrich Missala, geleitet. Vormittags wurde ein Thema theologisch bearbeitet, nachmittags ging es dann auf Exkursion zu verschiedenen Orten. Die Veranstaltungen wurden von Hedwig Groß organisiert. Die es ging zum Beispiel um folgende theologische Fragestellungen: „Ihr seid zur Freiheit berufen (Gal 5,13)“, „Die Frage nach Gott“ (1996) oder zur Frage des Verhältnisses von Juden und Christen („Jüdischer und christlicher Glaube“) (1997), „Versöhnt mit Gott durch den Tod des Sohnes“ (Röm 5,10) (1998), „Offenbarung und Glaube“ (1999), „Jesus von Nazaret – und was aus ihm Wurde. Stufen der Christologie“ (2000), „Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend. Herausforderungen – Chancen – Probleme“. Nach dem Tod von Heinrich Missala hätte Herbert Fröhlich die Sommerwerkstätten weiterführen sollen, dieser ist aber dann erkrankt und ebenfalls gestorben. Danach wurden die Sommerwerkstätten nicht mehr fortgeführt.
… an die Demonstrationen gegen den Golfkrieg (1991) und den Kosovo-Krieg (1999)?
1999 sind vom schwäbischen Fliegerhorst Lechfeld erstmals deutsche Soldaten mit Tornados in das Kriegsgebiet im Kosovo in den Einsatz geflogen. Ich erhielt am Vorabend des Abflugs einen Anruf von einem Mitglied der Friedensinitiative „Christen in der Region München“ mit der Bitte, am nächsten Morgen zum Militärflugplatz zu kommen. Ich habe dann noch Christian Artner-Schedler, pax christi-Friedensarbeiter in Augsburg, angerufen, der auch mit einer großen Gruppe gekommen ist. Wir wollten damit ein Zeichen setzen und den Soldaten zeigen, dass sie nicht alleine sind. Es war erschütternd: Wir waren gegen den Einsatz, aber die Soldaten mussten losfliegen.
Während des Krieges in Jugoslawien haben wir oft humanitär geholfen, mit Hilfslieferungen von Kleidung, etc.
Auch bei den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg war ich oft dabei.
Sind die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg friedfertiger geworden?
Das sollte man meinen; aber wenn es brenzlig wird…Neulich, als es in der Radiosendung „Tagesgespräch“ des BR um das Thema Flüchtlinge ging, rief eine Frau an und meinte, die Flüchtlinge sollten daheim bleiben, sie hätten hier nichts zu suchen. Der Anruf wurde dann schnell durch den BR beendet. Aber ich glaube, es gibt genug Menschen, die auch so denken.
Was wünschst Du pax christi für die Zukunft?
Als die Wende kam, habe ich gemeint, dass wir pax christi jetzt nicht mehr brauchen. Aber pax christi ist wichtiger denn je: Gewaltfreiheit, Konfliktlösung, das Miteinander leben. Als ich mich von meiner Dienststelle verabschiedet habe und in Rente gegangen bin, habe ich zu den Kolleginnen und Kollegen gesagt: Ein gutes Miteinander, gell? Das habe ich ernst gemeint.
Das Interview führte Marion Wittine am 19.6.2015.